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DER BÜRGE

Ein Besuch beim Zahnarzt hat das Leben von Gregor F. grundlegend verändert. Im Wartezimmer hat er in der Zeitschrift "Literarische Rundschau" die Kurzfassung einer wissenschaftlichen Abhandlung des in einschlägigen Fachkreisen äußerst bekannten Johann Christoph Deubelroither (von F. in weiterer Folge stets fälschlich Deibelreiter genannt) gelesen und ist davon nachhaltig beeindruckt worden.

Noch kürzer gefaßt als die Kurzfassung: J. C. Deubelroither hatte wahllos einhunderttausend Neuerscheinungen der Frankfurter Buchmesse herausgegriffen und auf ihren Gehalt an Zitaten, insbesondere auf das Vorhandensein solcher aus gleichzeitig neu erscheinenden Neuerscheinungen, untersucht. Da bei Zitaten stets die Gefahr der mißverstandenen, unvollkommenen oder sogar falschen Wiedergabe besteht, waren zunächst die Merkmale eines Zitates näher zu definieren.

Für J. C. D. besteht der Verdacht des Zitierens, wenn zwischen zwei Wortfolgen verschiedener Autoren gewisse Abhängigkeiten bestehen. So müssen dieselben zumindest in etwa die gleiche Anzahl von Wörtern aufweisen und außerdem eine ähnliche, entgegengesetzte oder überhaupt andersartige Aussage machen (Mißverständnisse usw. siehe oben!). Außerdem muß einer der beiden Autoren zumindest theoretisch Zugang zu den Schriften des anderen gehabt haben (was heutzutage das geringste Hindernis darstellt).

Um es ganz kurz zu machen: Deubelroither hat seinen bedauernswerten Computer mit den einhunderttausend Neuerscheinungen, dem klassischen Zitatenschatz Deutscher Sprache sowie den vorhin genannten Kriterien zur Erkennung von Zitaten gefüttert und von diesem die Auskunft erhalten, daß die besagten Bücher nicht nur (in Summe) sämtliche klassischen Zitate enthalten (und zwar mehrfach), sondern darüber hinaus zu etwa 26,3% aus gegenseitigen Zitaten bestehen. D. schließt seinen Bericht mit der sarkastischen Bemerkung, der alte Geheimrat (gemeint ist J. W. Goethe) hätte halt doch mehr schreiben müssen, wenn er Zitate für Hunderttausende von Büchern hätte liefern wollen. Auch von möglicher Papierersparnis war in seinem Bericht kurz die Rede.

Minuten nach der Lektüre der Abhandlung, während Gregor F. mit offenem Munde auf die Decke starrte und auf die Wirkung der Injektion wartete, war ihm die Erleuchtung gekommen, wie er sein unerfülltes Berufsleben (elf Posten als Aufsichtsratsvorsitzender ohne realistische Hoffnung, das Dutzend jemals voll bekommen zu können) ändern könnte: In Zukunft würde er literarisch-juristisch-kommerziell tätig sein!

Schon am nächsten Tage hat F. einer seiner elf Sekretärinnen elf bis auf den Adressaten gleichlautende Demissionsschreiben diktiert und in den darauffolgenden Tagen (unter schwachem Protest) elf Abfertigungen kassiert. Mit dem Strich zum Bilden der stattlichen Gesamtsumme war auch der Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen gewesen und F. konnte sich von da an ausschließlich seinen eigenen Plänen widmen.

Was Gregor F. klar erkannt hat, ist folgender Sachverhalt: Das zahlenmäßig unbefriedigende Angebot an klassischen Zitaten, welches die Schriftsteller zum gegenseitigen Zitieren zwingt, ist darauf zurückzuführen, daß nur schriftliche oder verbürgte Äußerungen entsprechender Persönlichkeiten als solche anerkannt werden. Die verblüffend einfache Abhilfe: F. beschloß, nach unverbürgten Äußerungen zu forschen und die Bürgschaft dafür zu übernehmen.

Diese Bürgschaft sollte vor allem das gefahrlose Zitieren der Aussprüche ermöglichen, wobei natürlich besonders an die Vermeidung materiellen Schadens gedacht war.

Da F. nicht einen Augenblick lang daran gedacht hatte, für diesen Zweck auch nur Teile seiner elf Abfertigungen (siehe oben!) heranzuziehen, hat er zunächst einen Verein ("Spruchmacher, e.V.") gegründet. Dieser sollte nicht nur den Literaten erlauben, in Zukunft ihre Zitate aus einer größeren Auswahl, sondern auch den Gönnern des Vereines, allfällige Zuwendungen von der Einkommenssteuer abzuschreiben. Auch eventuelle staatliche oder kommunale Subventionen würde man nicht ablehnen. Rebus sic stantibus konnte mit der eigentlichen Aufgabe begonnen werden.

Die Arbeit verläuft nun in drei Schritten, wobei der erste Schritt der literarische ist: F. und seine Mitarbeiter suchen nach zitatsverdächtigen, jedoch unverbürgten Aussprüchen bekannter oder berühmter, nach Möglichkeit auch noch verstorbener Persönlichkeiten. Ist der Verdacht zur Wahrscheinlichkeit gereift, so wird der Ausspruch zunächst dem sogenannten Banalitätsausschuß vorgelegt.

Dieser Ausschuß verhindert, daß z. B. Bemerkungen von Joseph II über das Wetter oder die Temperatur seiner Suppe, soferne sich keine zeitpolitischen Bezüge erkennen lassen, in den Zitatenschatz aufgenommen werden. Ein anderes, allerdings hypothetisches Beispiel: Da es sich bei der folgenden um eine mündliche Äußerung Goethes handelt und daher nicht zweifelsfrei feststeht, ob er "mehr Licht!" oder "(der Kaffee,) mehr licht!" gesagt hat ist anzunehmen, daß der genannte Ausspruch kaum die Hürde des Ausschusses genommen hätte.

Als nächstes werden nun besonders bedeutungsvolle Aussprüche dem sogenannten Expertenverfahren unterworfen, bei welchem Gutachten bekannter Fachleute eingeholt werden. Daß allerdings selbst diese Gutachten nicht immer die ausreichende Sicherheit gegen Mißbrauch bieten, zeigt ein Fall, welcher seinerzeit beträchtlichen Staub aufgewirbelt hat:

Ein internationaler Waschmittelkonzern hatte über Mittelsmänner verbreiten lassen, daß sich Mozart genau zu jener Zeit, als er mit der Niederschrift seines Klavierkonzertes Nr. 21 (C-Dur, KV 467) beschäftigt war, häufig über das schmutzig-graue Weiß seiner Hemden beklagt habe ("Wie dünkt mich dieses Weiß so düster").

Der erste Gutachter hatte den von F. beauftragten Fragesteller in hohem Bogen hinausgeworfen. Der zweite, noch wesentlich prominentere und daher reichlich abgeklärte Mozartologe hatte gemeint, es wäre dieser Satz zumindest nicht viel unwahrscheinlicher als all die anderen, welche Mozart von seiner Witwe und Nissen, deren zweitem Mann und Mozarts erstem Biographen, unterstellt worden sind.

Die Kommission hatte sich daraufhin mehrheitlich für die Übernahme der Bürgschaft ausgesprochen. Knapp vor deren Veröffentlichung hatte man sich zwar doch noch entschlossen dieselbe zurückzunehmen, es konnte damit allerdings nicht mehr verhindert werden, daß der betreffende Konzern seit damals eine reichlich entstellte Version des zweiten Satzes des genannten Konzerts für die Fernsehwerbung seines Waschmittels mißbraucht.

Weiter im Verfahren: Der Spruch, der jetzt schon gute Chancen besitzt, zum Zitat zu werden, kommt nun, wie sich F.'s Mitarbeiter ausdrücken, in den Dauertest. Da die ständige schriftliche Behandlung eines Zitates, welches leicht von den Lippen fließen soll, zu Betriebsblindheit gegenüber dem gesprochenen Wort führen kann, gehört der Ausspruch nun (so F.) zitiert, zitiert und nochmals zitiert.

Schaltet morgens ein Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz den Bildschirm ein, so erscheinen dort nach Austausch der obligaten Begrüßungshöflichkeiten mit dem Computer die im Dauertest befindlichen Zitate in der jeweils letzten Version zusammen mit der Bitte, dieselben im Laufe des Tages möglichst oft bürointern zu zitieren. So mancher etwas sperrige Satz ist erst im Dauertest so richtig handlich - oder besser gesagt: Mundlich - geworden.

Wie wichtig das Mißtrauen gegenüber dem nur geschriebenen Wort ist, zeigt das folgende kleine Beispiel: Im Verlauf einer Rundfunksendung war davon die Rede gewesen, daß die Götter ihrem Schützling Aeneas empf- bzw. befehlen, mit seinem Schiff Kurs auf die Apenninen-Halbinsel zu nehmen. Was dann aus dem Radio kam, hat F.'s Mitarbeitern eine kleine Redewendung für den Alltagsgebrauch beschert (bitte laut lesen): "Ein schöner Tag zum gen Italien segeln!" sagen sie, wenn draußen die Sonne scheint.

Hat nun ein Ausspruch sämtliche Verfahren, zu welchen auch noch die Kompatibilitätsprüfung, nämlich das Probesprechen seitens eines geeigneten Schauspielers oder, je nach Geschlecht, einer Schauspielerin zählt (die Mimen werden dabei von einem mit der Persönlichkeit des potentiellen Zitierten - medizinisch Zitanden - vertrauten Psychologen angehört und der Ausspruch nochmals auf Plausibilität überprüft) überdauert, so ist der literarisch-historische Teil der Arbeit beendet; es folgt nun der juristische.

Es geht hierbei im wesentlichen darum, für den Ausspruch im Namen des erstmaligen Aussprechers eine Art von Copyright zu erwerben. Die Schwierigkeit, welche letztlich durch einen raffinierten Trick bewältigt werden konnte, liegt darin, daß der vom Verein bestellte Anwalt als gesetzlicher Vertreter einer zumeist längst verstorbenen Persönlichkeit (im Amtsdeutsch als "Zitatswerber" bezeichnet) anerkannt werden muß.

Zu diesem Behufe wird dreimal hintereinander ein Termin angesetzt, zu welchem der Verstorbene mittels Anzeige im Amtsblatt geladen wird. Nach dreimaliger vergeblicher Ladung wird der betreffende Anwalt als gesetzlicher Vertreter des Zitatswerbers bestellt. Der Rest ist reine Formsache.

Trotz des scheinbar perfekten Verfahrens - man war bereits dazu übergegangen, die drei Termine auf den selben Tag im Abstand von wenigen Minuten festzusetzen, um die Prozedur abzukürzen - konnte in einem Fall nur durch die Geschicklichkeit des Anwalts eine größere Panne vermieden werden:

Angezogen von der Person Kaiser Franz Joseph I, von welchem es trotz einer Regierungszeit von fast sieben Jahrzehnten nur wenige verbürgte Aussprüche gibt ("...und hat mich sehr gefreut", "...a net teuer!", "...mir bleibt auch nichts erspart!"), hatten sich F. und seine Mitarbeiter mit Erfolg auf die Suche nach Unverbürgtem gemacht.

Zur Verhandlung der Aussprüche waren dann allerdings zwei Personen erschienen, welche ihre Identität (Franz Joseph Kaiser) einwandfrei nachweisen konnten und entschieden bestritten, die zu verhandelnden Äußerungen überhaupt zu kennen, geschweige denn selbst gemacht zu haben.

Dem Anwalt war es damals gelungen, die beiden erst zu entzweien (sie konnten sich auf sein Befragen nicht einigen, wer von ihnen Franz Joseph der Erste wäre) und dann zur Annahme eines kleinen Geldgeschenkes zu überreden. Damit war die Verhandlung gerettet gewesen.

Da im Regelfall bis zu diesem Stand der Dinge bereits nicht unerhebliche Kosten (die Zinsen nicht gerechnet!) aufgelaufen sind, ist es jetzt hoch an der Zeit, den dritten und letzten Schritt zu tun, nämlich den kommerziellen.

Es werden nun physische oder juristische Personen bzw. Personengruppen, bei welchen literarisches, kommerzielles oder sonstiges Interesse (oft allerdings auch reines Geltungsbedürfnis, leider!) vermutet werden darf, mit dem künftigen Zitat vertraut gemacht und eingeladen, dafür die Patenschaft zu übernehmen, wobei (wohlgemerkt) Patenschaft nicht mit Bürgschaft gleichzusetzen ist.

Sagt der Interessent (aus welchen Gründen auch immer) zu, so erhält er eine Urkunde, auf welcher nebst dem Zitat auch der Name des Sponsors angeführt ist. Die Überreichung der Urkunde (handgeschöpftes Büttenpapier) erfolgt in geeignet festlichem Rahmen. Der beiliegende Erlagschein ist steuerlich in voller Höhe abschreibbar. Das Zitat wird in der Jahresschrift des Vereines als verbürgtes Zitat veröffentlicht mit dem gleichzeitigen Hinweis, daß es für die Dauer des folgenden Kalenderjahres ausschließlich vom jeweiligen Gönner zitiert werden dürfe. Nach Ablauf dieses Jahres wird es dem allgemeinen Kulturschatz gutgeschrieben.

Gregor F., der von seinen Mitarbeitern respektvoll "der Oberbürgemeister" genannt wird, ist längst Präsident des Aufsichtsrates seines Vereines. Darüber hinaus ist er Träger der verschiedensten Auszeichnungen und Besitzer vieler Dankesschreiben. In seinem Reisepaß allerdings steht (entsprechend seinem leichten Hang zum Understatement) als Berufsbezeichnung "Spruchmacher".

Häufig wird F. von selbsternannten Witzbolden gefragt, wie es sich denn mit dem bekannten Götzzitat verhielte, ob es wirklich von Godefried von Berlichingen stamme? F., der inzwischen als profunder Kenner der Materie angesehen werden darf, reagiert auf diese Frage wie jener berühmte Mathematikprofessor der Technischen Universität, welcher von seinen Studenten gefragt wurde: "Holt der Achilles nun die Schildkröte ein oder nicht, Herr Professor?" Der Herr Professor hat sich damals abgewendet und gemurmelt: "Man darf das nicht so sehen..."