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DER KRAUTERER

Horst L. war in eine große Zeit hineingeboren worden; dies hatte zumindest der damals für L.'s Heimat zuständige Politiker A. Hitler, auch "Führer" genannt, behauptet. L. kann sich an diese Zeit nur undeutlich erinnern: Alles hatte auf irgendeine Weise mit einem Volk ohne Raum und einer daraus sich ergebenden Wohnungssuche begonnen, erst in den benachbarten Ländern, später im fernen Rußland. Die meisten Väter seiner Spielgefährten und auch sein eigener Vater waren in diese Wohnungssuche verstrickt gewesen.

Als der kleine Horsti groß genug geworden war, um den wahren Sachverhalt eventuell verstehen zu können, waren die große Zeit, das Tausendjährige Reich und die vermeintliche Wohnungssuche bereits zu Ende. Aus ihm unverständlichen Gründen waren seine Eltern nicht bereit gewesen, ihm später über die Vorgänge während seiner ersten Kindheitsjahre zu berichten, und auch der Geschichtsunterricht in der Unterstufe der Mittelschule, welche der wiederum etwas größer gewordene Horst später besucht hatte, war nicht geeignet gewesen, das Dunkel über dieser Zeit zu lichten.

So blieb für Horst als Eindruck von seiner Kindheit die Erinnerung an (tatsächlich) beengte Wohnverhältnisse, die vollkommene Abwesenheit des Vaters, welcher erst viel später aus dem fernen Rußland zurückkommen würde ("heimkehren" sagte man damals) und die zumindest häufige Abwesenheit der Mutter, welche untertags und öfters auch in der Nacht zur Arbeit mußte.

Die stärkste Erinnerung aber hatte L. an seine Großmutter: Eine kleine, damals bereits grauhaarige, nach seinen heutigen Begriffen jedoch gar nicht so alte Frau, welche sich den ganzen Tag um ihn und seine Erziehung kümmerte, letzteres unter ständigem Singen und Hersagen alter Lieder, Gedichte und Sprichwörter.

Natürlich hatte der kleine Horsti damals von ihrem Reden nur wenig verstanden, und doch hatte es ihn in gewisser Weise für sein ganzes Leben geprägt. Noch heute, wenn er an einem kalten Wintermorgen vor Anbruch des Tages aus dem Hause tritt, schießt ihm unwillkürlich ein Satz aus dem Lied "Hänsel und Gretel" durch den Kopf: "Es war so finster und auch so grimmikal." So sehr er sich später auch auflehnte, indem er alte Redeweisen ins Lächerliche verzerrte ("aller Laster Anfang ist die vordere Stoßstange!"): Diese Abhängigkeit war nicht auszulöschen.

Lange hatte er sich als Kind die Morgenstund' mit Gold im Mund so vorgestellt wie jene ältere Dame, welche er beim Einkaufen mit seiner Großmutter bei der Milchfrau traf, und die einen Teil ihres Vermögens in Form von zahnärztlichem Kunsthandwerk mit sich herumtrug. Die "Spinnerin am Abend, erquickend und labend" hatte er zum wiederholten Male bereits gefangen, als er sich dann doch vor der verheißenen Labung ekelte und die Spinne mit der Ferse zertrat. Lange hatte ihn auch die Frage beschäftigt, wieviele Schwalben sich eigentlich zusammentun müßten, um den Sommer zu machen, und wie sie es letztlich anstellten, wenn ihrer genug beisammen waren. Auch wäre interessant gewesen, von wem denn die anderen Jahreszeiten gemacht wurden.

Um das Kraut fett zu machen, gab es im Krieg ohnehin nichts, das hatte Horsti schon mitbekommen.

Natürlich hatte er sich damals mit solchen Fragen an seine Großmutter gewendet, aber anstatt der erhofften Auskunft war ihm nur der Satz "Du kleines Dummerl!" zuteil geworden. Es muß hier leider gesagt werden, daß Horst L. in einer entscheidenden Phase seines Lebens die entsprechende Möglichkeit zur Bildung versagt geblieben ist.

Als L. das nötige Alter erreicht und mit dem Besuch der Volksschule begonnen hatte, war sein ursprünglicher Wissensdurst bereits beachtlich geschmolzen. Dies hat Jahre später seine Eltern bewogen, ihn nach der Unterstufe aus der Schule zu nehmen und in eine Lehre zu schicken.

Nun, mit Fleiß und Ausdauer kann man auch ohne überragende Schulkenntnisse etwas im Leben erreichen. Horst L. war ledig und kinderlos geblieben und hatte genügsam gelebt, so daß er, als er sich den Vierzigern näherte, über ein bescheidenes Kapital verfügte und daran denken konnte, die unselbständige Arbeit aufzugeben.

In seiner Haßliebe zu Sprichwörtern hatte er die meisten von ihnen (zumindest rein verstandesmäßig) als hohle Redensarten entlarvt. Ein einziges hatte für ihn in all den Jahren nichts von seinem Wahrheitsgehalt verloren, und an dieses hatte er sich gehalten, als er daran ging, seine Zukunft mit Hilfe des angesparten Kapitales zu verändern. Dieses Sprichwort lautet:

Unkraut verdirbt nicht.

Er, der im Laufe seines Lebens mit verderblichen Waren aller Art Bekanntschaft gemacht, ja sogar damit gehandelt hatte, war fasziniert gewesen von der Möglichkeit, sich mit Dingen von Bestand abzugeben. So kündigte er seine Stelle, mietete eine kleine Lagerhalle und kaufte sich die in seinen Augen für die künftige Tätigkeit erforderliche Ausrüstung. Diese bestand im wesentlichen aus einer Sichel, einigen kleinen Stichschaufeln, einem Korb aus Weidenrutengeflecht und einem Botanikbuch. Letzteres, um wertloses Kraut von Unkraut zu unterscheiden. Später hatte er noch eine gebrauchte Scheibtruhe erworben.

Nun waren Jahre aufreibender Tätigkeit gefolgt: Untertags hatte L. an den Türen der Villen geklingelt und ersucht, das Unkraut in den Gärten sammeln zu dürfen. Geld hatte er zunächst keines verlangt, jedoch sein Erstaunen darüber, daß man ihm nicht nur das Sammeln gestatten, sondern ihn auch noch dafür entlohnen wollte, geschickt überspielt und bald hübsche Summen eingenommen. Der Abend war stets dem Ordnen, Archivieren und Konservieren des tagsüber gesammelten Materiales gewidmet. Bald konnte L. einen Gehilfen anstellen, später mehrere. Die Vorräte wuchsen, und L. mußte die Lagerhalle, die er inzwischen längst gekauft hatte, erweitern.

Eine zusätzliche Einnahmequelle hatte sich mit seinem wachsenden Bekanntheitsgrad ergeben: Immer öfter waren abends und feiertags Schaulustige bei seinen Lagerhallen (es war nicht bei einer einzigen geblieben) erschienen und hatten ihm, der längst nur mehr in der Zentrale arbeitete, bei seiner Tätigkeit zugesehen.

Anfangs hatte es ihn verletzt, daß sie von ihm als "der Krauterer" sprachen, hatte er sich doch gerade auf das UN-Kraut verlegt. Später war er darauf verfallen, von den Besuchern einen kleinen Betrag zu verlangen, der in Summe bald einen fixen Bestandteil seiner Einnahmen bildete, und zwar steuerfrei.

L.'s große Stunde kam jedoch in dem Sommer, als sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und im benachbarten Kanada eine Rekordernte an Weizen ankündigte: Der Weizen wuchs, ja wucherte auf allen verfügbaren Flächen, mühsam nur konnte er von den unbefestigten Fahrwegen ferngehalten werden, von den Rändern der Autobahn brannte ihn die Feuerwehr mit Flammenwerfern weg. Vereinzelt wurden sogar Armeepanzer eingesetzt. Der Kontinent stöhnte unter der Last des Überflusses.

Als der Weizen schließlich geerntet worden war, da sah man mit Bestürzung die Katastrophe: Er hatte jegliches Unkraut verdrängt, vernichtet, im Keime erstickt. Die Preise für Löwenzahn und Brennesseln stiegen auf der westlichen Hemisphäre ins Unermeßliche. Disteln waren nicht mehr erhältlich.

Horst L. konnte aushelfen: Als seine Lagerhallen leer waren, war auch die Gefahr einer unkrautlosen westlichen Welt gebannt und L. hatte ein Vermögen eingenommen.

Der durch die Transaktionen bedingte Kontakt mit internationalen Finanzexperten brachte ihn in der Folge dazu, seine Firma zu verkaufen und den Erlös gemeinsam mit dem bereits vorher verdienten Geld auf ein mündelsicheres Sparbuch mit Losungswort ("Löwenzahn") zu legen, wo er 3 und 1/4 Prozent an Zinsen dafür erhält. Horst L. könnte aufhören zu arbeiten und vom Ertrag seines Kapitales leben.

Wenn jedoch in diesen Tagen ein schon leicht ergrauter Mann, dem man seinen Reichtum keineswegs ansieht ("die Kleidung ärmlich, aber sauber und ordentlich geflickt" hatte man in den Märchen seiner Großmutter gesagt), an den Villentüren der westlichen Nobelbezirke läutet und höflich darum ersucht, etwas Löwenzahn aus dem Vorgarten entfernen zu dürfen, so erkennt der Leser in ihm unschwer Horst L., der im Geiste arm geblieben ist, denn: Hochmut kommt vor dem Fall! Und den möchte L. auf alle Fälle vermeiden.