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SUSANNE ODER DAS HALBVOLLE MENSCHENLEBEN

Susanne F., klein und zierlich gebaut, ist dennoch ein Ungetüm: als Bücherwurm zumindest einer mittleren Schlange vergleichbar, hat sie als Leseratte in etwa die Dimension eines Kalbes erreicht. Um es positiver auszudrücken: Susanne ist eine Kosmopolitin in der Welt des Buches.

Schon früh war ihr unstillbares Lesebedürfnis bemerkt und von ihren Eltern zunächst mit Freude, später mit Besorgnis aufgenommen worden. "Kannst Du nicht etwas Vernünftiges tun?" hatte ihre Mutter gesagt.

Als erschwerend muß angesehen werden, daß Susanne (auch heute noch) ihre Lektüre einfach zu wörtlich nimmt und kritiklos versucht, das Gelesene nachzuleben, selbst wenn ihr dies durch geographische und sonstige Umstände reichlich erschwert wird. So versetzt sie sich bis zur Grenze ihres Vorstellungsvermögens in jene Person des jeweiligen Lesestückes, welche ihr im Augenblick charakterlich am nächsten steht.

Einmal war sie während der Lektüre von "Trotzkopf als Großmutter" ernsthaft krank geworden. Der nach zwei Tagen heftigen Fiebers hinzugezogene Hausarzt, ein alter Freund der Familie, welcher Susanne auch in gesundem Zustand kannte, hatte aus den Worten, die sie mit glänzenden Augen und halbgeschlossenen Lippen murmelte, Argwohn geschöpft ("das Mädchen ist völlig überlesen!") und ihr einige Tage strikter Leseruhe verordnet. Bis zur völligen Genesung hatte er sie dann seinem Kollegen Dr. Dolittle überlassen.

Die Lektüre der Tierbücher mit vermenschlichenden Schilderungen von Hunden, Hühnern, Katzen und Schweinen hat Susanne so manche Biß- und Kratzwunde seitens weniger belesener Tiere eingetragen. Böse Erfahrungen mit Delphinen oder Känguruhs sind ihr aus den vorher genannten geographischen Gründen erspart geblieben.

Aus reinem Selbstschutz hat sie seit den Tagen ihrer Kindheit jegliche Literatur vermieden, welche von vorneherein geeignet wäre, sie in gefährliche oder zumindest peinliche Situationen zu bringen, wie Wildwest- und Kriminalromane.

Gleichzeitig mit den Kinderschuhen war Susanne den Jugendbüchern entwachsen und hatte sich der umfangreichen Bibliothek ihres Vaters zugewendet. Zwar hatte sie zunächst bei weitem nicht alles verstanden, was sie mit literarischem Heißhunger verschlang, doch ihr Verhältnis zum relativ alten Vater hatte sich zusehends gebessert (von Zeit zu Zeit sah sie den Alten gerne). Immer noch nahm sie alles Gelesene so ernst, daß sie bereits bei den ersten Zeilen des "Don Carlos" in Tränen darüber ausbrach, daß die schönen Tage von Aranjuez nun endgültig vorbei wären.

Einen Besuch beim Zahnarzt und eine Porzellankrone auf einem linken oberen Schneidezahn hatte ihr die Lektüre von Kafka's Verwandlung eingetragen, als sie Gregor Samsa nachahmte mit dem Versuch, ihre Zimmertüre mit dem Mund zu öffnen.

Gerne verweilte sie im Reich des Dichterfürsten Johann Wolfgang des Ersten, Goethe, obschon ihr Verhältnis zu seinem Faust durch eine Begebenheit arg getrübt worden war: An ihrem 17. Geburtstag war Susanne, angeregt durch den heimlichen Genuß von Alkohol, dem Rat "Greift nur hinein in's volle Menschenleben" gefolgt.

Der erste war ein Griff in's Leere gewesen. Der zweite in's bestenfalls Halbvolle hatte ihr den Faust für einige Zeit verleidet.

Seit Susanne in 5 verschiedenen Werken Heinrich Bölls auf Frühstückseier gestoßen ist, bildet das Ei zum Frühstück einen festen Bestandteil ihrer Ernährung - ein Erfolg der Literatur, den moderne Diätologen als zumindest zweifelhaft bezeichnen würden. Obwohl sie die Lektüre von Kurzgeschichten wegen des erforderlichen häufigen Persönlichkeitswechsels als anstrengend empfindet, hat sie wie am Ostersonntag alle weiteren Kurzgeschichten von Böll nach Eiern durchsucht, die der Autor dort versteckt haben mochte, vorläufig ohne Erfolg allerdings.

Wünscht Susanne jemandem eine gute Nacht, so weiß nur sie selbst, der Betreffende aber nie, aus welchem Libretto (Macht des Schicksals? La Traviata? Rigoletto?) sie gerade zitiert.

Beruflich nützt Susanne ihre große Belesenheit durch das Verfassen von Reiseprospekten. Sie ist sehr erfolgreich in ihrem Beruf. Viele Urlauber lassen sich von ihren Texten verführen. Als Susannes größter Erfolg kann das Zustandekommen jener Reisegesellschaft angesehen werden, welche gegen Ende der 19-stündigen Busreise zum Urlaubsort, nach dem Genuß der ersten Schlucke fremdländischen Alkoholes und den darauf folgenden gegenseitigen Vorstellungen erfreut festgestellt hatte: "Lauter Germanisten unter uns!"

Am zweiten Tage in dem völlig unbekannten und reizlosen Ort im Karst hatten sie erkannt, daß sie allesamt nur durch einige besonders gekonnte Wendungen aus Susanne's Reiseprospekt zum Antritt der Urlaubsfahrt bewogen worden waren.

Jahre intensivsten Lesens haben aus Susanne F. das gemacht, was ihre Kritiker als "total verlesenes Subjekt" bezeichnen. Sie selbst empfindet die Bezeichnung nicht als ehrenrührig. Ihre Beziehungen zu Goethe sind übrigens wieder so gut wie eh und je. Susanne hat nämlich die Anleitung befolgt "Du fängst mit einem heimlich an, dann kommen ihrer mehr'e dran, und wenn dich erst ein Dutzend hat, dann hat dich bald die ganze Stadt". Susanne hat das Dutzend längst überschritten. Den letzten Teil des Satzes würde sie aber für ihre Person zunächst noch aus Bescheidenheit zurückweisen.